Als wir uns im Juli 2019 in Richtung der baltischen Staaten auf den Weg machen, können wir noch nicht wissen, dass sich ein gutes halbes Jahr später, als ich diese Zeilen verfasse, der Blickwinkel völlig verändert haben wird. Die Corona-Krise bestimmt gerade den Alltag in Europa und der Welt, und ich sitze wie so viele zuhause im Homeoffice. Weil es für meine beiden Unternehmen gerade ohnehin kaum Aufträge gibt, arbeite ich an Dingen die mir auch wichtig sind, die ich aber sonst wegen vermeintlich dringenderen Themen hinten anstelle. So komme ich endlich wieder einmal zum Schreiben. Und ich ahne, obwohl ich in diesem Moment wie so viele existentiell bedroht bin, was wir sonst zwar oft sagen, aber nicht so wirklich spüren: In jeder Krise liegt eine große Chance die Dinge neu auszurichten. Es existiert zurzeit gelebte Solidarität und ein gesellschaftliches Gemeinschaftsgefühl, wie ich es in unserer gesättigten Welt (und damit meine ich vor allem Österreich und ähnlich „entwickelte“ Länder) kaum mehr für möglich gehalten habe. Es wird an uns allen liegen diese Aufbruchstimmung auch für die Zukunft positiv zu verwerten.
Wir unterstützen die momentanen Ausgangsbeschränkungen voll und ganz, weil mehr als alles andere die Gesundheit unserer Mitmenschen zählt. Die Versorgung der Älteren, Kranken und Hilfsbedürftigen braucht unsere volle Aufmerksamkeit. Wir erleben damit aber auch eine Zäsur, durch die uns die sonst so grenzenlose Freiheit erst richtig bewusst wird und obwohl wir diese nicht zuletzt durch unsere Reisen durchaus zu nutzen wussten, hätten wir sie vielleicht doch noch etwas mehr feiern können. Hand aufs Herz, in Zukunft werden wir das!

Anderseits ermöglicht das „soziale Fasten“ wieder einmal die Konzentration auf uns selbst und unsere engsten Familienmitglieder. Das hat durchaus was heilsames und ist vom Ansatz her gar nicht soweit weg von unserer Art zu Reisen. Für einige Wochen auf noch viel engerem Raum zusammengeschweißt, mit deutlichen Komfort-Einschränkungen gegenüber zuhause, das ist in manchen Momenten durchaus herausfordernd, aber zugleich auch immer eine wahre Seelen-Kur. Der entscheidende Unterschied zur momentanen Situation: wir sind dabei frei! Wir leben dann zwar in unserem kleinen Bus auf wenigen Quadratmetern, bewegen uns damit aber in der großen weiten Welt, lernen Menschen, Kulturen und die Vielfalt der Natur kennen … aus heutiger Sicht, das ganz große Abenteuer!
Das gilt umso mehr für unseren Sommer-Roadtrip ins Baltikum. Dieses Reiseziel hatten wir schon immer irgenwie am Radar, jetzt endlich visieren wir es ganz konkret an. Unsere Route führt über Wien durch Tschechien und Polen in Richtung Litauen. Unser erstes Nachtlager schlagen wir im „camp9 nature campground“ nordwestlich von Katowice auf. Ein Naturoase in mitten einer sonst sehr industriellen Gegend.






Die Betreiber dieses sehr naturnahen Campingplatzes, das polnisch-bayrische Ehepaar Ineza und Günther, sind ehemalige Weltreisende und haben mit ihrer Erfahrung von damals ein Kleinod für Traveller geschaffen. Eben ein Camp für Natur-Entdecker, das wohltuende Gegenteil von touristisch ausgelegten Campingplätzen. Alles wirkt liebevoll selbst gemacht, wir fühlen uns gleich wie zuhause.






Hier könnten wir es gleich einmal ein paar Tage aushalten, wir sind jedoch nicht gekommen um zu bleiben und so machen wir uns bereits am nächsten morgen wieder auf den Weg …

… den durchaus beschwerlichen Weg. Ich kenne diese Strecke auch von meiner letzten Polen-Tour mit „D’Bänd“ vor ein paar Jahren. Seit dem hat sich zwar unglaublich viel verändert, das starke Wirtschaftswachstum scheint vor allem am rasanten Ausbau der Autobahnen mit freiem Auge erkennbar. Trotzdem gibt es natürlich noch immer unzählige, kilometerlange Baustellenabschnitte und damit jede Menge Staus.


Unser Weg führt uns über Lodz und Warschau nach Bialystok, …

… wo wir unsere zweite Nacht auf einem eher unspektakulären, aber doch sehr schönen, sauberen Stellplatz verbringen.



Tag drei wird noch einmal ein richtiger Reisetag, vor allem weil es meist in Strömen regnet, machen wir kaum Station. So sehr uns der Norden Polens durch seinen, in den letzten Jahren offensichtlich stark gestiegenen Wohlstand überrascht hat, so krass ist nun der Vergleich zu Litauen. Quasi mit dem Grenzübergang beginnt eine andere Welt. Es wirkt als wäre die Zeit stehen geblieben, als wäre die Misswirtschaft der Sowjet-Diktatur erst wenige Monate her. (Die Bilder dazu verarbeiten wir gerade in einen Film).
Umso mehr sind wir auf unser erstes konkretes Ziel unserer Baltikum-Reise gespannt: Vilnius, die Hauptstadt Litauens, der ein aus unserer Sicht sehr spannender Ruf vorauseilt. Allerdings läuft es vorerst einmal ganz und gar nicht gut. Der Regen lässt einfach nicht nach, es staut an jeder Kreuzung und zu guter Letzt, nach nervenaufreibender Stadt-Einfahrt, ist unser Wunsch-Stellplatz, das Downtown-Forest-Camping, völlig ausgebucht (kein Wunder, es hat nur 6 Plätze, das haben wir einfach nicht gut recherchiert!). Wir fahren aber trotzdem hin, denn aus Erfahrung wissen wir, durch das persönliche Gespräche geht immer noch was. Diesmal nicht! Das ist für uns nun doppelt bitter, denn wir merken sofort, das wäre unser Platz gewesen. Ein Meeting-Point für Künstler, Rucksacktouristen, …, weltoffen aber eben nicht bobo. Ein paar Bild-Eindrücke findet ihr hier.
Dafür steigt die Vorfreude auf unseren Stadtbesuch am nächsten Tag, denn angeblich ist das „Downtown“ beispielgebend für das Lebensgefühl in Vilnius. Diese lässt uns auch großzügig über die eher ernüchternde Übernachtungsmöglichkeit am Parkplatz eines Ibis-Styles-Hotels, wunderbar an einer Stadtautobahn gelegen, hinwegblicken. Aber hey, wir sind unterwegs um Abenteuer zu erleben, da gehört das wohl auch einmal dazu. Camper sind wir hier allerdings weit und breit die einzigen, nicht ganz überraschend.


Wir vermuten bereits, was sich später eindrucksvoll manifestieren wird: Camping ist im Baltikum ein recht zweischneidiges Schwert. Viele Plätze sind lieblos gelegen und gestaltet. Mit eher einfacher Infrastruktur haben wir gerechnet, das mögen wir sogar. Der hygienische Zustand der sanitären Anlagen ist jedoch oft unterirdisch, und das mögen wir gar nicht. Auf der anderen Seite ist der Abenteuer-Faktor wirklich hoch und es gibt auch vereinzelt Plätze, die genau das Gegenteil beweisen. So haben wir ausgerechnet auf dieser Reise ein paar mal fast, und einmal tatsächlich das Paradies gefunden. Aber dazu später mehr.

Internet-Bandbreite gibt es praktisch überall im Baltikum unendlich viel und nachdem es draußen anhaltend kühl und regnerisch ist, kommt uns die Hotellobby nicht ganz ungelegen.


Am nächsten Tag fahren wir per Shuttle-Bus in die City von Vilnius und trotz der tristen Regen-Stimmung fühlen wir uns sofort wohl.





Die schmalen Gassen der Altstadt sind geprägt von gemütlichen Beisln und kleinen, handwerklichen Geschäften. Hier findet Jasmin auch schöne Leinenstoffe. Ein Nebenziel unserer Reise ist es Hersteller hochwertiger und nachhaltiger Leinenstoffe zu finden, welche als Lieferanten für Jasmins künftiges Mode-Label in Frage kommen.





Auf Grund des Wetters ist an diesem Tag nicht besonders viel los, dafür sind die Blicke frei, auf die vielen kleinen einfachen Details, mit denen die Bewohner und Geschäftsbesitzer ihre Häuser kreativ gestalten.



Ganz großes Highlight an diesem Tag, das Mittagessen im „Meat Lovers„. Ein herrlich-gemütliches Pub&Grill in dem wir [Zitat meiner Kinder] „die besten Ripperl ever“ serviert bekommen. Sorry Jack, die waren wirklich außerirdisch gut!


Weiter geht es an den Rand der Altstadt ins Künstlerviertel Užupis. Dieses wurde vor einigen Jahren durch ein Künstlerkollektiv als eigene „Republik“ ausgerufen, an deren Regeln, obwohl natürlich nicht wirklich rechtskräftig, sich angeblich jeder hier hält. Wie auch immer, das Flair des Viertels ist bestechend: schräg, offen, kreativ, aber nicht so intellektuell verklemmt, wie wir es sonst oft in solchem Zusammenhang erleben.












Was für uns bei jedem Besuch einer neuen Stadt dazugehört, ist auch ein wenig hinter die Kulissen zu blicken, auch jene Viertel zu besuchen die von Reiseführen, auch von alternativen, nicht erwähnt werden. Wir bekommen dabei ein besseres Gefühl, wie die Menschen jeweils wirklich leben. In Vilnius zeigt sich dabei für uns erstmals ein Phänomen, welches wir im Laufe unserer Reise immer besser verstehen lernen. Gefühlt 80% der Gebäude, Straßen, … ja der gesamten Infrastruktur ist völlig überaltert und marode. Die Menschen leben äußerlich betrachtet, wie in einer anderen Zeit. Doch alles was neu entwickelt und gebaut wird, scheint dann plötzlich fast ein wenig unserer Zeit voraus, als wolle man die letzten 50 Jahre einfach überspringen. Sehr viel Geld fließt in Zukunftstechnologien, vor allem in die Digitalisierung. Im Gegensatz zu Mittel- und Westeuropäischen Ländern gibt es hier dagegen keinen Widerstand, es wird als Chance gesehen. Daher ist man in diesen Bereichen auch oft führend. Für uns entsteht der Eindruck: Die Menschen hier führen häufig ein modernes, digitalisiertes Leben in einer veralteten, abbruchreifen Hülle.




Wie zum Beweis für unsere These, befindet sich inmitten von maroden Wohnhäusern, einer der best sortierten DJ-Shops Europas – natürlich mit weltweit ausgerichteten Onlineshop.


In unserem nächsten Beitrag unsere Weiterfahrt über Güterweg-ähnliche Straßen und holprige Wege durch den Osten des Landes nach Lettland, dass aus unserer Sicht vor allem durch seine einzigartigen Naturschauplätze besticht.
Stay safe!
Sent from my iPad
>
LikeLike